Ein Streifzug durch die sozialdemokratische Geschichte – und Ausblicke in eine ungewisse Zukunft

von Jürgen Hestler

Seit 40 Jahren gibt es dei SPD Weissacher Tal
Seit’ an Seit’

Gründerzeiten

Die Industrialisierung macht den Menschen zum Rad im Getriebe: Mitte, Ende des 19. Jahrhunderts haben die Arbeitstage zehn, zwölf, fünfzehn Stunden. Hier die Kapitalisten, da die Proletarier; Herren und Knechte. Gegen das, was Karl Marx die „Despotie der Fabrik“ nennt, formiert sich die Arbeiterbewegung. Am 23. Mai 1863 gründet Ferdinand Lasalle den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein, Urzelle der deutschen Sozialdemokratie.

Die Staatsmacht versucht, die keimende Bewegung zu ersticken: Im Oktober 1878 tritt das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ inkraft, es folgen zwölf Jahre der Behinderung, Bespitzelung, Bedrängnis. Tarnorganisationen gründen sich, in Schorndorf zum Beispiel der Tabakarbeiter-Gesangsverein Frohsinn. Als sich im Mai 1884 gegen 5 Uhr morgens eine 15 Mann starke Gruppe von Ausflüglern zu einer Wanderung aufmacht, alarmiert der Stadtschultes das Oberamt Waiblingen: „Die der Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie verdächtige Gruppe“ habe sich ins Großheppacher „Lamm“ begeben und „bis 10 Uhr mit vierstimmigem Gesang bekannter Lieder“ vergnügt.

Am 1. Oktober 1890 läuft endlich das Sozialistengesetz aus – und noch am selben Tag verfügt das Ministerium des Inneren einen geheimen Erlass: Die Polizei habe „von jedem wichtigen Vorgang auf dem Gebiet der sozialdemokratischen Bestrebungen dem Ministerium sofort Anzeige zu machen“. Die Bewegung blüht dennoch auf, gegen alle Schikanen. Im Juli 1891 gründet sich im „Weißen Lamm“ der Arbeiterverein Schorndorf, auf dass es auch „in dieser seither so geistesumnachteten Gegend anfängt zu dämmern“. Gewerkschaften entstehen. Arbeiterbildungsvereine. Arbeitergesangsvereine. Arbeitersportvereine. 1904 vermerkt der Polizeiberichterstatter nervös: „360 Personen beiderlei Geschlechts“ bei einer Maifeier in Schorndorf!

Wer vergilbte Fotos aus jenen Pionierzeiten betrachtet – fußballspielende Arbeiter, ihre Frauen bei der Gymnastik im Freien, schwimmende Sozialdemokraten in der Rems –, der sieht einen allgegenwärtigen Stolz auf diesen Gesichtern: Es ging um mehr als um Tagespolitik, nicht nur um gerechte Löhne, menschenwürdige Arbeitszeiten, die „soziale Frage“, das auch, aber hier brach sich darüber hinaus ein Lebensgefühl Bahn, ein Aufbruchshunger, ein enthusiastisches Gespür für die utopische Kraft des Zusammenhalts. Der große Sozialdemokrat Karl Kautsky schrieb: „Ohne Wirtshaus gibt es für den deutschen Proletarier nicht bloß kein geselliges, sondern auch kein politisches Leben.“ Ein Erwachen, der verstocktesten Abwehr abgetrotzt: Von Anfang an durchweht diese Bewegung ein romantischer Geist, der anrennt gegen alle Begrenzungen und Lähmungen. Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ . . .

Widerstehen

Gegen die Nazis

„Wer rettet Deutschland?“ So heißt der Vortrag, den 1931 im heillos überfüllten Schorndorfer Waldhornsaal ein prominenter Sozialdemokrat hält: Kurt Schumacher, der später neun Jahre, neun Monate und neun Tage in verschiedenen Konzentrationslagern geschunden werden wird.

Während Schumacher spricht, blaffen und blöken Nazis dazwischen, der Versammlungsleiter mahnt zur Ruhe, endlich ziehen die Braunen aus, unterm Johlen der Linken, Schumacher nennt die Faschisten die „Knüppelgarde des Kapitals“, diesen Leuten fehle der „Geist“, sie wendeten sich nur an die „niedrigsten Instinkte“.

In einer Zeit der Entdemokratisierung bleibt die SPD die Kraft der Republik: Anfang Februar 1933, wenige Tage, nachdem Präsident Hindenburg Hitler als Reichskanzler vereidigt hat, formieren sich in Schorndorf tausend Leute vor dem Rathaus zum Protest.

Allein, einen Monat später bei der Reichstagswahl kommen die Nazis auf fast 44 Prozent, die SPD strandet bei 18. In Schorndorf beflaggen die Nazis Rathaus und Postturm mit Schwarz-Weiß-Rot und Hakenkreuz.

Und am 24. März 1933 stimmen alle – nein, fast alle – Reichstagsparteien, von der NSDAP bis zum Zentrum, von Reinhold Maiers Liberalen bis zur Bauernpartei, geschlossen für das „Ermächtigungsgesetz“: Die Gewaltenteilung liegt in Trümmern, der Weg zur Diktatur ist frei. Einzig gegen die 444-köpfige Mehrheit gestimmt haben: alle 94 Sozialdemokraten.

Noch am selben Tag beginnen die Säuberungsaktionen. In Schorndorf legen die Nazis der SPD-Gallionsfigur Gottlob Kamm nahe, „bei den nächsten Sitzungen des Gemeinderats nicht zu erscheinen“. Falls er diesem „Rate nicht Folge leisten wolle“, werde die NSDAP ihn in „Schutzhaft“ nehmen lassen. Die Nazis verschleppen Kamm ins Konzentrationslager Kuhberg bei Ulm und verbrennen seine Bücher auf dem Marktplatz. Nach seiner Entlassung muss er sich täglich bei der Polizei melden. Mehrmals durchsucht die Gestapo sein Haus.

Kamms Genosse Heinrich Talmon Groß wird 1936 verhaftet: In einer Miedelsbacher Gaststätte glaubt er sich unter Vertrauten und bezeichnet Hermann Göring als den eigentlichen Reichstagsbrandstifter. Ein vermeintlicher Freund denunziert ihn. Groß stirbt im Februar 1945 im KZ Dachau.

In der historischen Rückschau ist die mörderischste Niederlage der Sozialdemokraten ihr größter moralischer Sieg: Sie haben sich dem Kotau vor dem Diktator verweigert. Gottlob Kamm wird im Juni 1945 zum Bürgermeister von Schorndorf ernannt und im August 1946 als Mitglied der Landesregierung von Württemberg-Baden „Minister für politische Befreiung“.

Willy!

Der lange Weg der SPD

Wenn der SPD-Kreisvorsitzende Jürgen Hestler einen altgedienten Partei-Jubilar zu ehren hat, packt er aus seiner Kladde ein besonders kostbares Geschenk; es ist eine D-Mark wert: eine Briefmarke mit dem Porträt von Willy Brandt. Egal, wem Hestler so ein Fitzelchen Papier übereignet – „die heulen alle“.

Einer Partei anzugehören, die so vieles erreicht hat und so vieles durchgemacht, einer Partei anzugehören, deren Mitglieder als Märtyrer und Blutzeugen mit ihrem Leben eingestanden sind für ihre Ideale, das bedeutet, zumindest für die Alten, immer noch: Teil zu sein einer „großen Erzählung“, bei der man noch heute „Gänsehaut kriegen kann“. Ein letztes Mal entzündete sich dieser romantische Überschwang an der charismatischen Person Willy Brandts: Da war ein Mann, der dem braunen Ungeist widerstanden hatte und ins norwegische Exil geflüchtet war, ein Mann, der dafür im bloß oberflächlich „entnazifizierten“ Nachkriegsdeutschland als „Vaterlandsverräter“ diffamiert wurde – und eben jener Mann sank in Warschau auf die Knie: als Kanzler der Bundesrepublik, als friedlicher Repräsentant einer sozialen Demokratie.

Das ist sehr lange her. Aus einer Geschichte voller Tragödien, die Identität stifteten, und Triumphe, die emotionale Heimat gaben, ist ein Weg geworden durch die Mühen der Ebene: Wahlenttäuschungen, Geduldsproben im Wartesaal der Macht, flüchtige Etappen- und manchmal Pyrrhus-Siege. Die SPD hat unter Kohl gedarbt und ist unter Schröder, dem Agenda-2010-Basta-Kanzler, in eine Sinnkrise gestürzt. Heute müht sie sich ab am Versuch, ein bisschen sozialdemokratischer zu sein als die Merkel-CDU.

Und jenseits des tagespolitischen Kleinkleins zeichnet sich ein größeres Zahlenmuster ab: 1976 hatte die SPD mehr als eine Million Mitglieder. Ende 2012 waren es noch 480 000. Schwacher Trost: Auf dem Siechen-Weg der mählichen Auszehrung schreiten die Sozis Seit’ an Seit’ mit der Erzrivalin CDU – die verlor seit 1990 auch fast die Hälfte ihrer einst 800 000 Leute.

In Momenten der Beklommenheit fragt sich Jürgen Hestler: „Ist die große Erzählung zu Ende?“

Geschäftsordnung

Die ungewisse Zukunft

Acht-Stunden-Tag, gerechter Lohn – vieles von dem, was die Arbeiterbewegung einst gegen die wütenden Schmähungen der Ausbeuterklasse durchzusetzen versuchte, ist heute „Allgemeingut unserer Gesellschaft geworden“, sagt der Weinstädter Sozialdemokrat und verdienstvolle Erforscher der heimischen SPD-Geschichte Wolf Dieter Forster. Grund genug, stolz zu sein. Oder lässt sich daraus auch etwas ganz anderes folgern? „Wir waren zu erfolgreich, und jetzt braucht man uns nicht mehr“, spitzt Jürgen Hestler zu – „diese Stimmung gibt’s schon“ bei manchen in der Partei.

Zu erfolgreich? Nicht mehr nötig? Natürlich nicht – als ob unsere Gesellschaft, als ob irgendeine Gesellschaft automatisch auf ewig „sozial“ und „demokratisch“ wäre! Alle Gerechtigkeitsfragen beantwortet? Ein absurder Gedanke in Zeiten, da die Schere zwischen Arm und Reich weltweit so skandalös weit aufklafft.

Vielleicht liegt das wahre Problem der Partei im Hier und Heute ganz woanders.

Noch Jürgen Hestlers Vater sagte, bevor er in die Wirtschaft aufbrach: „Ich gehe jetzt zum Politisieren.“ Es war wie bei Karl Kautsky: Ungerechtigkeit anprangern und Heimat finden im Beisammenhocken, das floss in eins. Nur: Treffen die großen Volksparteien mit ihren Organisationsmechanismen und Ritualen noch den Zeitgeist?

Heute finden sich nur noch „ganz wenige Leute, die Spaß daran haben, in eine Kreisverbandssitzung zu kommen und dort einen Antrag an den Landesvorstand einzubringen“, von dem jeder weiß, „dass er versandet“. Genehmigung des Protokolls . . . Bestätigung der Geschäftsordnung . . . „Es ist die Frage, ob so eine Partei alten Stils die jungen Leute noch erreichen kann.“ Sie hantieren mit Twitter, organisieren sich via Facebook, rufen auf zum Flashmob, bauen sich ihre Gegenöffentlichkeit per Livestream – und wenn in einer Debatte Behauptungen aufeinandertreffen, zücken sie ein Smartphone und klären via Internet „in Sekundenschnelle“, worüber die Alten sich früher nächtelang die Köpfe heißpolitisiert hätten. Junge Leute heute werden nicht mehr in eine Partei hineingeboren – sie engagieren sich mal hier und mal da, und falls sie einen Sinn darin sehen, sagen sie: „Vielleicht machen wir beim nächsten Projekt wieder mit.“

Viele der Alten in den großen Volksparteien „haben mit den neuen Medien Schwierigkeiten“, sagt Jürgen Hestler – wenn das Gespräch darauf kommt, fällt den meisten bloß Manfred Spitzer ein: digitale Demenz; macht dumm; ist gefährlich. Und über die Jugend von heute sagen viele Alt-68er in der SPD: Die sind unpolitisch, passiv, zu nichts zu gebrauchen.

Aber vielleicht wollen die Jungen sich bloß einfach nicht Woche für Woche beim Politisieren von den Alten die Welt erklären lassen, vielleicht haben sie bloß einfach keinen Bock auf Gremienarbeit alter Schule. „Man muss Politik heute anders machen“, ahnt Jürgen Hestler. „Aber wie?“

Für soziale Gerechtigkeit zu kämpfen, die immer bedroht ist und täglich neu erkämpft sein will: Das „ist nicht überflüssig geworden“, sagt Wolf Dieter Forster. Die große Erzählung – man muss sie weiterschreiben: allerdings mit der Sprache, den Medien, den Strategien der heutigen Zeit.

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